Wer oder was ist Gott? –
Der Versuch einer nur allzu-menschlichen Interpretation

Die Frage, »wer oder was ist Gott?«, stellt sich dem ernsthaft nach »Erlösung« strebenden Menschen immer wieder und lässt ihn nicht los.
Kirchengeschichtlich betrachtet ist die männliche Personifizierung Gottes als unser Vater ein, aus dem männlich-patriarchischen Denken entstandenes, fehlinterpretiertes Prinzip, das bis in unsere heutigen Tage nicht aufgehoben oder zumindest überdacht wurde.
Es ist richtig, dass es Jesus selbst war, der diese Bezeichnung Gottes als Vater, nach dem damaligen kulturellen Verständnis, immer wieder verwendete. Sie entspricht dem aramäischen Wort »Abba«, welches später auch bei seinen Jüngern und den ersten Christen zum prägenden Ausdruck für den einen Gott wurde, der im Gebet angerufen wurde. Hierbei muss man aber auch berücksichtigen, dass es, im damaligen Einvernehmen und im Hinblick auf ein zweitausend Jahre zurückliegendes kulturelles Verständnis, allgemeiner Sprachgebrauch war, das Göttlich-EINE mit »Abba« – also Vater – anzusprechen. Auch, wie ich bereits ausgeführt habe, redete Jesus oftmals in Gleichnissen, die dem damaligen Einfühlungsvermögen entgegenkam. Im heutigen allgemeinen Verständnis des Menschen scheint mir der einseitige Aspekt des »väterlichen Gottes«, auch im Zusammenhang mit meiner folgenden Argumentation, nicht mehr angebracht zu sein. Man kann also den invokativen Ausdruck für das Göttliche als Vater auf die Tradition zurückführen, was aber – nach meiner Auffassung – heute nicht mehr adäquat ist.
Aber lassen Sie mich begründen: Alleine der fehlende und meines Erachtens oft ausgleichend wirkende Einfluss der Weiblichkeit innerhalb der meist monotheistischen Kirchen und Glaubensrichtungen spricht Bände. Bis heute haben die Frauen ihre Meinungen und Vorschläge, hinsichtlich der Aufgaben und Tätigkeitsfelder sowie des nach außen hin in Erscheinung tretenden Auftretens der Kirchen, zurückzuhalten. Dies geschieht aufgrund des patriarchischen Machtanspruches der Männer innerhalb der institutionalisierten Kirchen.
Die männlich-väterliche Personifizierung Gottes, (im Christentum, Judentum und Islam) lässt zudem eines außer Betracht: Der Intellekt – meist den Männern zugesprochen – ist nichts ohne die weibliche Intuition.
Man könnte also, wenn wir dem Göttlich-EINEN beide Aspekte zugestehen wollen, auch vom »Vater-Mutter-Prinzip« des Göttlichen sprechen, was aber, wie wir noch sehen werden, wieder nur aus unserer beschränkten Sichtweise erfolgen würde, mit dem Schluss, dass wir uns hierbei erneut nur auf eine rein menschliche Denkweise einließen und das Göttliche auf unser Niveau herabstuften.
Zudem ist eine Umschreibung und gerne vom Menschen gewollte Definition des Göttlichen bereits ein Gedankenfehler, dem wir in unserem dualistisch-polarisierenden Denken unterliegen. Ich werde darauf später noch etwas ausführlicher eingehen. –
Gott ist das Eine; der Anfang und das Ende und gleichzeitig ohne Anfang und ohne Ende. ER umfasst alle Dinge, und alle Dinge kehren auch zu IHM als Quelle, dem Ursprung allen Seins, zurück.
Was ich damit meine: Gott ist das Höchste, das Eine, das keinen Namen hat, eben weil es das EINE ist. Deshalb ist der Ausdruck »Gott« gleichzusetzen mit dem, was Lao-Tse mit Dao versucht hat auszudrücken (siehe Einleitung).
Aber gleichgültig ob wir Gott, Dao oder sonst einen »Namen« für das Namenlose aussprechen: Das EINE ist etwas, das wir nicht be-greifen können.
Was wir hingegen als »Gott« fassen oder er-fassen können, was für uns zur Glaubensrealität wird, ist in Wahrheit nur Wirkung oder Ergebnis bzw. ein von uns innerlich geschaffenes Bild einer geistigen oder transzendenten Wirklichkeit, die wir mit Gott benennen. Denn die Dinge, die wir als real oder als Seiendes betrachten, sind eigentlich nicht real, sie sind Nicht-Seiendes aus dem Blickpunkt des Schöpfers, des Träumers bzw. von jenem, der sich – bildlich gesprochen – im »Spiegel der Nicht-Realität« betrachtet.
Das für uns Nicht-Begreifbare hingegen ist das eigentlich Reale. Jedoch entstammt das, was wir Menschen als wirklich (real) betrachten, der Unwirklichkeit – aus dem Blickwinkel der Ganzheit –, die dennoch Wirklichkeit ist. Somit ist alle Realität und sind auch alle Unwirklichkeiten, alles Nicht-Seiende, Gott.
Gott oder wie immer wir dem Göttlichen Namen und Ausdrücke zuordnen, sind allerdings nur Laute oder Begriffe für etwas, das im Wesentlichen unausdrückbar ist.
Gott ist in allem; alles ist Gott! Und da Gott das Eine ohne ein Zweites ist, hat alles, was ist, seinen Ursprung in Gott selbst: die Blumen und Bäume, die Tiere, das Meer, die Wüste, Felsen und Steine, Licht und Dunkel, Sommer und Winter, Bewegung und Stillstand – und auch unser, mit allen Gegensätzen behaftetes Leben. Gott ist in allem; Gott ist alles. In uns ist Gott, und Gott ist absolute, in sich ruhende Stille.
Und dennoch: Alles, was wir wahrnehmen und sehen, ist Gott, aus Gott entstanden; und doch ist Gott nicht das, was wir sehen.
Zu allen Zeiten hatte das vom Menschen angebetete Göttliche zwei Aspekte: das Männlich-    Intellektuelle und das Weiblich-Intuitive. Das Eine kann ohne das Andere nicht existieren.
Es ist genau so, als wenn wir uns ausschließlich Licht vorstellen könnten, ein Licht, das keinen Gegenpart hat. Wir würden es nicht als Licht interpretieren können, da uns das Gegenstück, die Dunkelheit fehlt. Die Trennung zwischen Licht und Dunkelheit ist aber Voraussetzung dafür, Licht und/oder Dunkelheit als die Pole ein und desselben zu erkennen: Ohne Licht gibt es keine Dunkelheit; ohne Dunkelheit gibt es kein Licht.
Um es zu verdeutlichen: Unterstellt, es gäbe nur  Licht, dann könnte es das Licht nicht wirklich geben. Das hört sich zunächst etwas widersprüchlich an, was es aber nicht ist. Denn, wenn es nur Licht gäbe, dann gäbe es aufgrund einer nicht vorhandenen Vergleichsmöglichkeit auch nur Dunkelheit, die ebenso als Licht bezeichnet werden könnte. Licht und Dunkel – da nicht vergleichbar – wären dann ein und dasselbe, jedoch ohne etwas in der Wirklichkeit Gottes sein zu können, da wir auch keinen Namen hierfür hätten. Licht und Dunkelheit sind in dem hier verwendeten Sinne gegenstandslos, namenlos und eins! – –
Wir erkennen das Licht nur, weil wir das Licht im selben Moment mit Dunkelheit in Beziehung setzen und es daher zuordnen können. Wir kennen das Licht der Sonne, einer Kerze oder Glühbirne. Somit ist es für uns als Helligkeit erfahrbar. Ebenso verhält es sich mit der Finsternis oder der Nicht-Helligkeit bzw. dem »Nicht-Licht«.
Erst in diesem Zusammenhang wird auch begreifbar, dass wir erst dann das Licht wirklich erkennen, wenn dieses Licht auf Gegenstände bzw. Licht reflektierende Objekte fällt, die wir dadurch mit unseren Augen sehen können.
Schlussfolgerung: Erst die Dunkelheit lässt uns das Licht als Licht erscheinen.
Ähnlich verhält es sich mit allen anderen Ausdrücken unseres dualistischen oder auch polarisierenden Denkens. Denken wir nur an die Farben Weiß und Schwarz. Könnten wir uns vorstellen, wie die Farbe Schwarz wäre, gäbe es kein Weiß? Oder Krieg und Frieden: Unsere Denkweise lässt es zu, hier zu differieren. Aber denken wir einmal darüber nach, was wäre, wenn es keinen Krieg gäbe: Könnte es dann Frieden geben – umgekehrt genau so: Gäbe es ohne Frieden Krieg?
Hinterfragen Sie die sich komplementär entgegenstehenden Begriffe wie Positiv – Negativ, schön – hässlich, usw. …
Die Polaritäten der Dinge sind Ausdruck für das Verhältnis sich gegenseitig bedingender Größen – aber nur in unserem Denken. Im Unterschied zur Dualität geht es bei der Polarität um die Gegenüberstellung von Gegensätzen. Die chinesische Philosophie zentralisiert die Polarität; insbesondere im Daoismus und Zen-Buddhismus werden die polaren Gegensätze (Yin und Yang) besonders betont.
Die Dualität kann man, im philosophischen Sinne, als Zweiheitslehre bezeichnen oder, im spirituellen Sinne, als die Wahrnehmung der Getrenntheit im Gegensatz zur Nicht-Dualität (Einheit).
Um aber nun noch einmal auf das Beispiel mit dem Licht zurückzukommen, das ohne Dunkelheit nicht begreifbar wäre: Nun umschreiben wir das Göttliche doch einmal nur als reines Licht, ein Licht ohne Reflektionen auf einen Gegenstand, ein Licht ohne Dunkelheit.
Ich weiß, dass »umschreiben« hier selbstverständlich unzutreffend ist, da das Göttlich-EINE nicht umschrieben werden kann. Da Gott aber keinen Gegensatz hat, oder keine Objekte mit denen man IHN in Beziehung setzen könnte, ist eine Definition Gottes nicht möglich. Aufgrund dieses fehlenden Gegensatzes bleibt Gott ohne jegliche Vergleichsmöglichkeit. Und das ist für den menschlichen Intellekt schwer – wenn überhaupt – begreifbar, da wir Menschen nur in Kategorien der Gegensätze denken.
Also: Gott ist reines Licht! Und weil er das Licht ist, ist er gleichzeitig auch das Nicht-Licht. Daraus können wir schließen, dass Licht und Dunkelheit nichts Gegensätzliches im Sinne der Wirklichkeit Gottes ist oder sein kann.
Gleichermaßen vereint das Göttliche Alles und Nichts. Schwer nachzuvollziehen, nicht? – Wenn aber das Göttliche ALLES ist, muss ES auch NICHTS beinhalten, sonst wäre es ja nicht alles! Somit ist Gott ALLES und NICHTS.
Das Göttliche zu beschreiben bzw. überhaupt in Worte zu fassen, ist, ohne etwas in Beziehung damit bringen zu können, unmöglich. Aber aus dem Göttlich-EINEN entsteht Polarität – ohne dass ES selbst polarisiert. Das heißt, dass das Göttliche keinen Gegensatz hat, ES aber Gegensätzlichkeit erschafft.
Aus dem Göttlichen ging das Eine hervor; aus diesem Einen ging die Zwei hervor und aus diesen wiederum die manifestierte Welt der Millionen, d. h.   aller Dinge, die irgendwann end-lich wieder in ihren Ursprung zurückfinden werden. Vergleichbar heißt es bei Johannes (Kap. 1, 1) dazu:

»Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort«.

Was nun Gott oder das Göttlich-EINE aber wirklich ist, können wir mit unserem beschränkten, polarisierenden Intellekt nicht verstehen. Wir können – wenn überhaupt – nur ansatzweise den Versuch machen, das Prinzip des Göttlichen zu verstehen.
Doch wie erkennt sich dieses Eine ohne ein Zweites selbst? – Woher weiß es als absolutes Sein, dass es absolutes Sein und damit vollkommenes Bewusst-Sein ist? – Wie erkennt es sich als solches, wenn ein unvollkommenes Nicht-Bewusstsein nicht zum Vergleich existiert? – Und wie kann sich Gott als Gott fühlen, wenn es außer Gott nichts gibt, das anders ist als er selbst? – Mit was kann sich Gott vergleichen, wenn nichts Andersartiges oder Verschiedenes zum Vergleich dienen kann? – Wie kann er sich erkennen oder definieren? – Muss er sich überhaupt definieren? – –
Zunächst: Gott muss sich natürlich nicht erkennen oder gar definieren: Gott ist vollkommen und in seiner Vollkommenheit ALLES. Da es außer Gott nichts anderes gibt, ist Gott alles, was es gibt. Er ist »Der ALLES«. Um sich selbst erfahren zu können, muss Er also etwas erschaffen, mit dem Er sich in Beziehung setzen und in dem Er sich quasi spiegeln kann. Denn es kann nur etwas geben, wenn es auch etwas anderes, davon Unterscheidbares gibt: Ohne Dunkelheit kann Licht nicht sein. So kam es, dass Gott  Etwas, nämlich die Schöpfung, erschaffen hat, damit er sich selbst in ihr erfahren kann. Die Wirklichkeit (Gott) erschafft also, wenn man so will, die Nicht-Wirklichkeit (Materie, Leben – also die Schöpfung), um sich selbst als Wirklichkeit erkennen und erfahren zu können. Im Übrigen muss das Göttliche sich als absolute Wirklichkeit nicht selbst erfahren, aber ES will es so, und zwar ohne Grund und ohne jegliche Bedingung, nur aus reiner Liebe heraus.
Selbsterkenntnis, also die nach innen gerichtete Kenntnis des eigenen, wahren Wesens, kann nur über das Außen erlangt werden. Auszubrechen aus sich selbst, um erforschender Weise durch die äußere, vergleichbare Andersartigkeit wieder zu sich selbst zurückzufinden, das ist der Weg – der einzige Weg – sein Innerstes kennen zu lernen und dabei zu erkennen: »Wer  bin ich?« …

Kommen wir aber nun wieder zurück zu meinen Ausführungen:
Gott alleine weiß, was der Mensch in seiner Gesamtheit ist. Wir wissen das nicht, obgleich wir uns selbst als das höchste Glied in der Schöpfung Gottes wahrnehmen. Wie sollten wir aber dann erkennen können, wie Gott als reines bewusstes Sein ist, wenn wir uns noch nicht einmal selbst begreifen?
Wir können uns nicht einmal ansatzweise vorstellen, was Gott ist. Selbst wenn wir das könnten, wäre es uns nur mit unserem beschränkten Intellekt möglich, das Prinzip des Alles-Umfassenden zu begreifen. Erst zu einem sehr, sehr viel späteren Zeitpunkt wird es uns möglich sein, zu erkennen und zu erfahren, was Gott in Wirklichkeit ist. Da dies aber nun den Rahmen des in diesem Buch Thematisierten übersteigt, hierzu nur noch eine kurze Wiederholung:
Da wir Gott ohnehin nicht in seiner Gesamtheit zu begreifen in der Lage sind – zumindest in unserem jetzigen Seins-Zustand nicht –, müssen wir uns auch deshalb nicht selbst unter Druck setzen, alles verstehen zu müssen. Wir können es einfach nicht und wir werden dies auf Erden auch niemals ganz können. Erahnen lässt sich aber, was wir sein können und was Gott ist.

Aber lassen Sie mich zum Schluss noch einmal kurz auf Lao-Tse zu spechen kommen. Wenn wir Lao-Tses Worten aus dem TAO TE KING folgen und sie in uns Wirklichkeit werden lassen, kommen wir gleichermaßen zu dem Schluss: »Das ‚Unergründliche‘ ist fern aller Bestimmbarkeit; es ist schlechthin ein Nichts für die Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Es ist ein Geheimnis – das letzte Geheimnis – und es bleibt ein Geheimnis. Lao-Tse begründete keine Religion, er verlangt vom Menschen kein Bekenntnis und gibt keine Glaubenslehren. Er findet das Göttliche in sich und in allem was lebendig ist, in allem Seienden und ebenso auch in allem Nicht-Seienden. Er weiß sich mit ihm eins. Er ist ergriffen von von seiner Majestät in der es schweigend über alle religiösen und philosophischen Vorstellungen der Menschen hinweg schreitet und sich im Schweigen offenbart. …« [frei rezitiert nach Rudolf Backofen im Buch: Lao-Tse – TAO TE KING]

Das Leben, mit all seinen Höhen und Tiefen, kann uns alleine darauf vorbereiten, was uns also diesbezüglich erwartet. Wir sollten uns in gespannter Erwartung auf das Göttliche, das wir in Wirklichkeit selbst sind, freuen und Vorbereitungen treffen, ES, eines fernen Tages, in uns verwirklicht zu sehen. Wir müssen uns vergegenwärtigen, was wir für ein immenses, ja gigantisches Potential in uns tragen: Gott ist alles; Gott ist Eins; Gott ist ich, du, er, sie, es, wir, ihr, sie – und noch viel mehr – er ist das pure, das reinste Licht, das alle Lichter, selbst das aller Sonnen unseres Universums überstrahlt: GOTT IST!

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Verkürzte Leseprobe aus meinem Buch
„Das Vater-unser als Brücke zum EinsSein mit dem Göttlichen“
aus dem Kapitel „Vom Vater-Gott und den Himmeln“,
erschienen im Drei Eichen Verlag, Hammelburg;
1. Auflage 2011.
Die Erläuterungen zu den angegebenen Fußnoten finden Sie im Originalbuch!

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© 2011 by Manuel-V. Kissener & Drei Eichen Verlag

 

 

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